Friedensnobelpreis 1926: Aristide Briand — Gustav Stresemann

Friedensnobelpreis 1926: Aristide Briand — Gustav Stresemann
Friedensnobelpreis 1926: Aristide Briand — Gustav Stresemann
 
Der französische Außenminister und sein deutscher Amtskollege erhielten den Friedensnobelpreis für ihre Rolle beim Abschluss der Locarnoverträge.
 
 Biografien
 
Aristide Briand, * Nantes 28. 3. 1862, ✝ Paris 7. 3. 1932; 1901-05 Generalsekretär der Französischen Sozialistischen Partei, 1902-32 Mitglied der französischen Abgeordnetenkammer, 1909-29 Ministerpräsident (mit Unterbrechungen, zuletzt 1925-26 und 1929), bis 1932 17-mal Außenminister; setzte sich für die französisch-deutsche Aussöhnung ein.
 
Gustav Stresemann, * Berlin 10. 5. 1878, ✝ ebenda 3. 10. 1929; 1907-12, 1914-18 und 1920-29 Abgeordneter im Deutschen Reichstag, August bis November 1923 Reichskanzler und Außenminister, 1923-29 Außenminister; strebte die friedliche Revision des Versailler Vertrags an.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Die Verleihung des Friedensnobelpreises für das Jahr 1926 stellte gewissermaßen eine Neuauflage der Auszeichnung des Vorjahrs dar. 1925 waren der amerikanische Finanzexperte Charles Dawes und der britische Außenminister Joseph Chamberlain für ihre Beteiligung an der Herstellung einer europäischen Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg geehrt worden. Während sich Dawes um die Regelung der deutschen Kriegsschulden verdient gemacht hatte, war es Chamberlains diplomatischem Geschick zu verdanken gewesen, dass 1925 in Locarno ein umfangreiches Vertragswerk zustande gekommen war. Im Zentrum dieser Verträge stand die Überwindung des deutsch-französischen Gegensatzes. In Locarno einigten sich die einstigen Kriegsgegner auf die Unverletzlichkeit ihrer jeweiligen Grenzen. England und Italien übernahmen die Garantie für den Bestand dieser Grenzen.
 
Die eigentlichen Architekten der Locarnoverträge aber waren der französische Außenminister Aristide Briand und sein deutscher Kollege Gustav Stresemann. Ohne deren Wirken wären die Verträge nicht zustande gekommen. Indem sie ein Jahr nach Locarno, und im Übrigen gleichzeitig mit ihren Vorgängern Chamberlain und Dawes, gemeinsam den Friedensnobelpreis erhielten, wollte das Preiskomitee auch ein politisches Signal setzen und seinen eigenen Beitrag zur deutsch-französischen Verständigung leisten. Der Wille zur Übereinkunft war bei Briand und Stresemann umso bemerkenswerter, als beide Politiker mit erheblichem innenpolitischem Gegenwind zu kämpfen hatten. Für viele Franzosen waren die Deutschen nicht erst seit dem Ersten Weltkrieg der große Erzfeind. Voller Mißtrauen blickte man auf den Nachbarn. In Briands Heimatland begrüßte man daher die harten Friedensbedingungen, die die Siegermächte den Deutschen in Versailles (1919) auferlegt hatten. Die Besetzung des Ruhrgebiets als Reaktion auf ausbleibende deutsche Kriegsschuldlieferungen (1923) fand in Frankreich großen Beifall. Eine Annäherung an Deutschland, wie sie von Briand betrieben wurde, sah man als eine gravierende Gefährdung der eigenen Sicherheit an. Stresemann hingegen stieß mit seiner Politik des Ausgleichs in allen politischen Lagern, besonders aber aufseiten der Rechten, auf heftigen Widerstand.
 
 Geführt durch nationale Interessen
 
Dabei gingen die beiden Außenminister nicht von naiven Idealvorstellungen aus. Sowohl Briand als auch Stresemann waren nüchterne und pragmatische Politiker, die zuerst an die Interessen ihrer eigenen Staaten dachten. Aristide Briand kannte sich im politischen Geschäft bestens aus, war seit über zwei Jahrzehnten aktiv dabei, hatte zahlreiche hohe Regierungsämter, darunter mehrmals das des Ministerpräsidenten und des Außenministers, bekleidet. Im Gegensatz zu vielen seiner Landsleute war der ehemalige Sozialist Briand der Auffassung, dass ein zu schwaches, international isoliertes Deutschland letztlich eine größere Gefahr für Frankreich bedeuten würde als ein Deutschland, dem man den Weg zurück in die Staatengemeinschaft ebnete. Auch Gustav Stresemann war kein Pazifist aus Überzeugung. Im Ersten Weltkrieg hatte der Abgeordnete der Nationalliberalen Partei vorbehaltlos die deutsche Annexionspolitik unterstützt. In der neuen, die Monarchie ablösenden Weimarer Republik spielte er bald eine wichtige politische Rolle. Nach einem dreimonatigen Intermezzo als Reichskanzler einer Koalitionsregierung (1923) übernahm Stresemann das Außenministerium. Seine Zielsetzung war klar: Der Kriegsverlierer Deutschland sollte im Konzert der Mächte wieder eine führende Position einnehmen. Diesen Kurs vertraten im Grundsatz auch seine innenpolitischen Gegner, doch bestand Uneinigkeit über die Mittel, mit denen dies zu erreichen war. Konservative und rechtsextreme Kreise lehnten unter Verweis auf den von ihnen als »Schandfrieden« bezeichneten Vertrag von Versailles jegliche Verhandlungen mit den Siegermächten ab. Stresemann aber setzte auf Kooperation statt auf Konfrontation. »Ich bin«, erklärte er im Frühjahr 1927, »in meinem Leben zu der Ansicht gekommen, dass ohne Kompromiss, das heißt ohne einen Ausgleich, noch nie etwas Großes in der Welt geschaffen worden ist, was Bestand hatte.« Die Schlüsselrolle auf dem Weg zurück zu einer international geachteten Großmacht kam nach Stresemanns Auffassung eine Normalisierung des Vehältnisses zu Frankreich zu. Indem dessen Sicherheitsbedürfnis befriedigt wurde, konnte, so hoffte Stresemann, Deutschland seine außenpolitische Handlungsfreiheit zurückgewinnen.
 
So führten jeweils eigene nationale Interessen Briand und Stresemann zu jener Übereinkunft, die im Oktober 1925 in Locarno unter Beteiligung der Siegermächte des Ersten Weltkriegs getroffen wurde. Am Ziel seiner Wünsche konnte sich Stresemann fühlen, als Deutschland im September 1926 in den Völkerbund aufgenommen wurde. Die deutsch-französische Annäherung machte, auch auf wirtschaftlichem Gebiet, rasche Fortschritte.
 
 Das Ende der Aussöhnungspolitik
 
Trotz dieser Erfolge gelang es Stresemann nicht, die innenpolitischen Widerstände gegen seine Außenpolitik zu überwinden. Gleich nach Locarno platzte die Regierungskoalition. Die aufstrebenden Nationalsozialisten agitierten heftig gegen die Politik der Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern. Stresemann ließ sich nicht von seiner Linie abbringen. Er suchte den Ausgleich auch mit Russland, und kurz vor seinem Tod 1929 konnte er noch die endgültige Regelung der leidigen Reparationsfrage erleben (Young-Plan). Mit der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 setzte eine neue deutsche Weltmachtpolitik ein. Sie bedeutete die völlige und radikale Abkehr von Stresemanns Kurs einer zwar konsequenten, jedoch behutsamen Rückkehr Deutschlands auf die Bühne der internationalen Politik.
 
Aristide Briand starb wenige Monate vor Hitlers Regierungsantritt. Zuvor hatte er noch zweimal durch friedenssichernde Maßnahmen allgemeine Aufmerksamkeit erregt. 1928 vereinbarte er mit dem amerikanischen Politiker Frank B. Kellogg (Nobelpreis 1929) den so genannten Briand-Kellog-Pakt, einen Vertrag zur Ächtung von Kriegen, dem sich zunächst 15 Staaten anschlossen. 1930 unterbreitete er den europäischen Mitgliedsstaaten des Völkerbunds den Vorschlag, eine Europäische Union zu gründen. Damit war er seiner Zeit aber weit voraus. Die Idee fand ihre Verwirklichung 1957 mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der heutigen Europäischen Union (EU).
 
H. Sonnabend

Universal-Lexikon. 2012.

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